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Die Begegnung als Grundlage der Erziehung

Dienstag, November 9th, 2010

(Bearbeitung eines Vortrages in Herne am 10.10.2010)

Die Begegnung ist ein Grundbedürfnis aller Kinder. Nicht nur jene Kinder, die durch Unruhe und alle möglichen anderen Erscheinungen auffallen und in allen Klassen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt häufiger vorkommen; alle Kinder sind gespannt auf die vielen Begegnungen mit ihren Klassenkameraden und nicht zuletzt mit ihrem Lehrer oder ihrer Lehrerin. Und wie sie damit recht haben! Finden doch in der Begegnung mit dem Anderen die grundlegendsten, die prägendsten und die zukünftigsten Wahrnehmungen statt. Die Wahrnehmung des anderen Ich ist ebenso unvollständig und keimhaft-unvollkommen wie das Ich selbst. Sie vermittelt all die Hoffnung und Aussicht auf weite gemeinsame Entwicklungen.

Im ersten Augenblick der Begegnung mit dem Lehrer oder der Lehrerin ist für manchen empfindlichen Schüler bereits der ganze Schultag geprägt. Durch eine erste Begegnung mit einem orientierten und hoffnungsvollen Erwachsenen ist eventuell schon im Vorhinein das meiste gerettet, was vielleicht im Laufe des Tages nicht ganz gelingen wird. Für diese Begegnungen am Morgen lohnt es sich, sich Zeit zu nehmen. Kommt man eine halbe oder dreiviertel Stunde früher, so ergeben sich ohne Mühe vielfältige Möglichkeiten der Begegnung. Manche Kinder richten sich erst mal in der Klasse ein und kommen später um den Lehrer zu begrüßen. Andere kommen als erstes zum Lehrer und beginnen ein Gespräch. Oft bemerken die Kinder erst nach längerem Sprechen, dass sie immer noch die Schultaschen neben sich stehen haben oder sie in der Hand halten. Wie sehr doch die erste Begegnung die Wahrnehmung durch die Leibessinne oft erst mal verdrängt! Diese Zeit des Tages bietet auch Gelegenheit, sich über die vielen Fortschritte der häuslichen Bemühungen auszutauschen, wie es den verschiedenen Tieren zu Hause geht und was die Projekte machen. (Es ist eine der lohnendsten Empfehlungen daraufhin zuarbeiten, dass jedes Kind individuell an mindestens einem Thema arbeitet, in der Schule und zu Hause)

Diese Zeit am Morgen und ebenso die Zeit nach dem Ende des Unterrichts ist nicht allein für die Begegnungsmöglichkeit gut, sondern auch notwendig, um all die vielen Projekte in einer Art zu begleiten, dass sie wirklich eine bessere Alternative für die Hausaufgaben darstellen. (– in einem späteren Text mehr zu den Projekten)

Welchen Gewinn haben aber die Schüler und hat auch der Lehrer oder die Lehrerin von der vielen gemeinsamen Anwesenheit! Nach einem solchen Tag wird man unbelastet in den Abend gehen und nach einer Woche unbelastet ins Wochenende. All die Dinge, die unter Schülern manchmal vorkommen – erfreuliche und belastende -, können sogleich besprochen werden. Anschließend können Sie vergessen werden. So muss keiner die vergangenen Erlebnisse mit sich herumtragen und die Möglichkeit des intentionalen Erinnerns wird gefördert. Es kann dadurch unbelastet weiter gelebt und gearbeitet werden. Dies gilt mindestens so sehr wie für die Schüler auch für den Lehrer. Alle sind offen für weitere kreative Prozesse und Begegnungen.

Eines der wichtigsten Momente in der Begegnung haben wir bisher nur kurz gestreift: die Vorbereitung, die Vorfreude, die Erwartung. Insbesondere wenn wir Besuch in der Klasse erwarten, z.B. eine Hospitation. Aus Gründen der Ökonomie und der Authentizität habe ich mir angewöhnt den Schülern vorher zu sagen, wie es zu einemBesuch kam und mit welchem Ziel oder Interesse er kommt. Dann kann man auch noch vor den Kindern vor Beginn des Unterrichts mit dem Hospitanten ein paar Dinge besprechen und ihn selbst noch etwas in dieser Richtung beitragen lassen. Ehrlichkeit zahlt sich hier wiedermal doppelt aus: Die Kinder orientieren sich sogar besonders durch die Widersprüche zwischen zwei verschiedenen Darstellungen desselben. Und wenn es einen selbst trifft, dass einem auffällt, dass es nicht ganz richtig war, was man und wie man etwas sagte, kann man dies entschuldigend bemerken. Wenn das Bemühen echt ist, das möglichst zu vermeiden, kann das ohne Schaden auch öfter vorkommen. Wehe aber, wenn die Schüler bei einem Vorbild immer mehr Dinge entdecken, die der Lehrer von sich aus nie zugeben würde!

Die Information zwischen den Zeilen, dass die Schule ein Lebensraum und ein Raum für individuelle Arbeit ist und erst in zweiter Linie ein Ort des gemeinsamen Lernens führt am Anfang der Schulzeit unweigerlich dazu, dass die Kinder zu jeder Zeit Fragen an den Lehrer stellen. So kommen eventuell einige Kinder mitten im Unterrichtsgespräch zum Lehrer und müssen etwas sagen oder fragen. Dabei war es für mich immer wieder erstaunlich, wie wenig das störte. Wenn es einem gelingt, die Klasse im Bewusstsein zu halten und sich trotzdem ganz dem Fragenden zu widmen, so ist der rote Faden nach der kurzen Pause sofort wieder da. Er geht gar nicht wirklich verloren, die Gruppe bleibt still und es kann einfach fortgesetzt werden.

Es sind insbesondere zwei Gruppen von Kindern jeder Klasse, die von den neuen Formen des Unterrichts besonders profitieren: Zum einen sind es die, die mit dem normalen Schulstoff kaum mitkommen. Sie können alle Lerninhalte an ganz persönlich-individuelle Erlebnisse anknüpfen oder auch Lerninhalt – auch vom Leben – ungestraft verschlafen. Auf der andern Seite sind es die besonders Begabten, die alles sofort verstehen, sich alles merken und wie selbstverständlich auch alles können. Sie entwickeln sich sehr gut, da sie in der freilassenden Atmosphäre sich mit dauernd wechselnden Dingen identifizieren können. Womit, ist weitgehend frei. Vor allem der Wechsel des Lehrers von der Perspektive des Lehrenden zu der des Gesprächsteilnehmers und -leiters führt dazu, dass auch die Schüler sich und die anderen Schüler in ihren Äußerungen ebenso ernst nehmen, wie den Lehrer.

Hiermit wird natürlich auch die Führungsrolle bzw. das Folgenmüssen verbunden. Fällt das Führen weitgehend zugunsten einer freien Nachfolge der Schüler weg, so kommt ein viel lebendigeres inneres und evtl. auch äußeres Gespräch der Hochbegabten zustande. Die Lehrer- und Schulbezogenheit ihrer Beiträge verschwindet zugunsten einer ins Ganze eingepassten Gesprächskultur. Die Erfahrung zeigt, dass mit dem Abnehmen der Führung die Identifikation aller Schüler mit dem Lehrer wächst. Und dass dieser Prozess auch im Falle eines relativ inkompetenten Vorbildes gelingen kann.

Diese Freiheit auch im Arbeits- oder Willensteil (Stillarbeit) zu realisieren hat wiederum positive Rückwirkungen auch auf die Gespräche. „Die Welt“ ist offen für das, was sich z.B. ein vielleicht ungewöhnlich begabter Schüler vornimmt. Und da alle tun, was für sie gerade dran ist, hat er noch nicht einmal eine Sonderrolle mit all den daraus resultierenden Sekundärerscheinungen.

Verzichtet man fast vollständig darauf die Kinder zu etwas zu drängen, so wird man eine Fülle überraschender und produktiver Dinge erleben. Die Kinder wollen unbedingt lernen. Die Kinder wollen auch von sich aus Schreiben, Lesen und Rechnen lernen. Sie werden bald heraus haben, wo der Lehrer sich auskennt und wo weniger. Das wird bei guter Nachbereitung des Unterrichts eine positive Rolle spielen. Was von der Lehrerin oder dem Lehrer wie von allein kommt, werden sie freudig aufnehmen, was aber erarbeitet wird, nehmen sie noch ernster. Darin liegt das eigentliche Vorbild. Gehe ich einer Anfrage eines Kindes bis zum nächsten Tag nach, habe etwas nachgeschaut oder sogar etwas geübt, so werden immer mehr Kinder Fragen haben und selbst sehr kreativ werden in Bezug auf die Erfindung neuer Formen, neuer Melodien und das Sich-Erarbeiten vieler Themen.

Lässt man dauernd Lücken oder einfach Zeit für die gegenseitige Begegnung und den Austausch, so entsteht in den Kindern eine große Aktivität. Es gibt Kinder, die – in dieser Art geführt – über längere Zeit gar nicht wirklich arbeiten. Mit Sicherheit wird eines Tages umso mehr Aktivität daraus hervorgehen! Natürlich wird man es immer wieder mit der eigenen Angst zu tun bekommen: Wird es diesmal nicht einfach in Nichtstun enden?

Gerade die außerordentlich begabten Kinder fallen in einer solchen Umgebung immer wieder dadurch auf, dass sie für den oberflächlichen Beobachter zunächst nichts tun. Mit einiger Geduld begleitet führt dies stets in äußerst fruchtbare Prozesse und zu sehr guten Ergebnissen. Wenn hoch- oder auch nur sehr begabte Kinder in eine solche Lernsituation wechseln, gibt es besondere Probleme. Sie tun oftmals nach einer Weile nichts mehr und wissen auch mit sich selbst nichts anzufangen. Bedenkt man, wie diese Kinder durch ihre Lehrer und manchmal auch durch ihre Eltern daran gewöhnt worden sind, durch ihre außergewöhnlich guten Leistungen nach vorgegebenen Maßstäben zu glänzen und zu gefallen, so wird man für sie Nachsicht und Verständnis haben. Oft ist für diese Kinder das Schönste, wenn sie eine Weile an den Beobachtungen, die der Lehrer oder die Lehrerin machen, teilnehmen dürfen. Sie lernen dabei liebevoll und eingehend auf viele Tätigkeiten zu blicken, die ihnen vorher überhaupt nichts gesagt hatten. Irgendwann haben sie dann genug gesehen und wollen auch äußerlich aktiv werden.

Eine der vielen Fallen, in die man in einer solch offenen Unterrichtsform bestimmt eines Tages laufen wird, ist die der Belanglosigkeit. Erlebe ich selbst an einem Tag die Begegnung mit einzelnen Schülern nicht wirklich als Begegnung, so werden die Schüler vermutlich nicht verstummen, sondern mir immer mehr erzählen. Sie werden vieles erzählen, was man auch gut hätte bleiben lassen können. Da den Kindern ja selbst nicht ganz klar wird, was sie dabei eigentlich suchen, wird das evtl. ein sich selbst befeuernder Prozess. Hierfür lohnt es sich, sich das selbstverständliche Fortsetzen des Unterrichts vorzunehmen um nicht gleich in die nächste Falle zu laufen: Die Schüler zu wesentlicheren Beiträgen aufzufordern.

 

Bei Erwartungen oder Fragen hebt sich das Seelisch-Geistige aus dem Körperlichen heraus. Die Antwort bedingt dann die wohltuende Rückkehr zur eigenen Person. Dies spielt sich auch bei der Erwartung einer Begegnung und dem wirklichen Eintreten der Begegnung ab. Aber ebenso, wie nicht jede Antwort auf eine Frage mich in den zu mir gekommenen Zustand zurückversetzt, sondern nur eine Antwort, die wirklich trifft, so ist es auch bei der Begegnung. Die Erwartung einer Begegnung hebt mich aus mir heraus. Die wirklich eintretende Begegnung bringt mich in bester Weise wieder zu mir. Das Ausbleiben einer erwarteten Begegnung hinterlässt aber Spuren, die nur mit der Zeit durch anderes ausgeglichen werden können.

Das Idealtypische in dieser Hinsicht ist das Fragen und Antworten in der Mathematik. Die Fragen sind eindeutig und offen. Das Ergebnis ist noch nicht bekannt, jedoch sind alle Bedingungen für die Antwort bereits da. Die Antwort ist eindeutig richtig und schließt alles, was sich vorher geöffnet hat, wieder ab. In der Mathematik sind diese Vorgänge besonders einfach zu beobachten. Denn bei jeder Frage, die ich gestellt bekomme oder mir stelle gehe ich genau so aus der gewöhnlichen Verbindung mit dem Leib ein Stück weit heraus und weiß ebenso, wie vor einer Begegnung, nicht wirklich wie das Ganze endet. Denn habe ich wirklich eine Frage, weiß ich die Antwort noch nicht. Ich weiß nur alles Bedingende, das letztlich darüber entscheidet, wie die Antwort ausfallen muss. Die Antwort ist also überprüfbar. Und die Antwort gehört unbedingt zur Frage. Frage und Antwort sind eine Einheit. Das Aushalten des Ungelöstseins hebt mich heraus, das Erleben dieser Einheit bringt mich zu mir zurück.

Man kann die Offenheit gegenüber einem anderen Menschen und die Erwartungen nicht ganz von den Inhalten lösen, die mit der Begegnung auf einen zukommen. Und diese Inhalte gestalten oder prägen in unserem Fall eventuell den ganzen Unterricht. Welches Glück für alle Beteiligten, wenn viele Anregungen inhaltlicher Art in den Unterricht integriert werden können! Und oftmals passen die Dinge, die scheinbar zufällig in den Unterricht kommen besser zusammen, als irgendein Mensch sie hätte planen können. Dazu gehört (mindestens vonseiten des Lehrers oder der Lehrerin) neben der bereits erwähnten Offenheit auch noch der unbedingte Gestaltungswille, dass die Begegnung, der Unterricht, ein Ganzes bleibe.

Eine sehr schöne und wichtige Beobachtung ist, dass sich mein Inkarnations- Verhältnis in mir selbst zu den Anregungen durch die Schüler durch meine Erwartung nicht nur ändert sondern umgekehrt, dass durch die vorher gelebte Erwartung Anregungen auf mich inkarnierend wirken. Halte ich mich normalerweise an den von mir jeweils gemachten Plan des Unterrichts, so ist jede Anregung eine – vielleicht erfreuliche – aber doch Störung. Richte ich mich dagegen mit allen Erwartungen auf solche Anregungen ein, so wird genau das Gegenteil stattfinden. Diese Anregungen werden mich vollends zu mir bringen und mich in die beste Unterrichtsverfassung versetzen. Die Schüler fangen dann auch an, mit dieser Reaktion zu rechnen. Und zwar nicht in der uns aus der eigenen Kindheit bekannten Art, dass man planmäßig ausnutzt welche Lehrer durch bestimmte Themen leicht ablenkbar sind, sondern in der Art, dass die Kinder sich fragen: „Passt das jetzt wirklich gerade hierher?“ (und nicht etwa: „Passt das zu meinem Lehrer?“)

Aus der Ablenkung vom Eigentlichen durch Zwischenfragen wird ein, auch im Schüler verantwortetes, Bewusstsein des roten Fadens im weitesten Sinne.

Ein anderer Gesichtspunkt ist der Rhythmus des Unterrichts. Und diesen Rhythmus kann ich als Lehrer fast immer einhalten, auch wenn ich die Wechselfälle des Lebens in produktiver Art in den Unterricht einbinde oder gar zum Thema des Unterrichts mache. In diesem Sinn ist es manchmal gut und auch ohne Weiteres möglich, Fragen von Kindern zu verschieben. Wenn insgesamt die Atmosphäre ist, dass die Kinder einem selbstverständlich abnehmen, dass man darauf zurückkommen wird, dann ist für viele Themen ein Verschieben kein Problem. Es kommt sogar evtl. die Erwartung der Behandlung des Themas in einigen Tagen fördernd dazu.

Insbesondere als Fachlehrer in höheren Klassen kann man einen Effekt dieser Vorbereitung beobachten, der sich darin ausdrückt, dass eine freie Mitarbeit der Schüler entsteht.

Es gibt immer auch Schüler, denen es eigentlich viel zu viel ist, Menschen begegnen zu müssen. Ich habe viel über einzelne Kinder nachgedacht, und beobachtet, wie dies Nachdenken auf sie wirkt. Ich habe streng darauf geachtet, dass ich keinem Schüler dabei zu nahe komme. Ich habe auch viele Beobachtungen angestellt, was passiert, wenn ich solches wieder aufhöre. Vieles ging mit „geistiger Vorbereitung“ wie von allein und fiel ohne diese einfach aus. Anderes wurde im angenehmen Sinn selbstverständlicher. Seit ich sozusagen ganz darauf verzichte und das Beziehung-Halten zu geistigen Wesen nicht mehr als meine Arbeit erlebe, ernte ich beinahe jederzeit hilfreiche Einfälle und glückliche Umstände. Es ist wie ein Achten der Freiheit nach allen Seiten, nach der sinnlichen Seite ebenso wie nach der geistigen.

Woran erkenne ich eigentlich, dass ein mir gegenüberstehender Schüler geistig- seelisch bei sich ist oder mehr in seiner Umgebung verteilt? – Bei einem inkarnierten Menschen funktioniert die Wahrnehmung punktuell und schnell und wird, auch in Bezug auf Einzelheiten, schnell verarbeitet. Dementsprechend schnell wird er auch reagieren. Der Schüler ist sozusagen bereits ganz da. Ein anderer, der vielleicht noch ein wenig in der Umgebung ausgebreitet ist, wird vermutlich auch bereits alles sehr wach wahrnehmen, aber nicht so schnell verarbeiten können. Unter anderem daran wird man es erkennen. Man kann bei einem solchen Kind in diesem Zustand noch gar nicht wirklich mit Reaktionen auf Wahrnehmungen rechnen.

Etwas ganz anderes ist es, wenn ein Schüler noch am Träumen ist. Ein Schüler, der noch träumt, ist auch in der Wahrnehmung noch langsam oder noch nicht wirklich exakt. Solche träumenden Kinder haben ihre Gesundheit mehr oder weniger sozusagen eingebaut. Sie kommen erst ganz konkret in der Wahrnehmung an, wenn sie auch in der Verarbeitung ganz in der Gegenwart angekommen sind. Dies ist in gewisser Weise eine beneidenswerte Sorte Mensch. Früher gab es viel mehr solcher Kinder. Heute müssen viele Menschen um ihre Inkarnation kämpfen. Dies erleichtern wir den Kindern schon allein dadurch, dass wir das mitvollziehen. Schon deshalb ist die hier vorgeschlagene Art sich auf Begegnungen einzustellen und auf den Unterricht vorzubereiten eine sehr produktive. Denn so komme ich selbst in die Lage um meine Inkarnation jeden Tag neu zu kämpfen bis der Unterricht auf seinem Höhepunkt angekommen ist oder war. Ich werde kaum den Wunsch entwickeln vor dem Unterricht  bereits mit allem voll auf der Höhe zu sein. Und Nachbereitung wird mich sehr stark in Anspruch nehmen, die Vorbereitung einen immer kleineren Teil erfüllen.

Man wird dadurch mit der Zeit jenen Kindern ähnlich, die sehr viel wahrnehmen. (und das alles erst einmal nicht verarbeiten können) Es gibt ein weiteres Erlebnis, das ein Licht auf viele moderne Kinder wirft: Besucht man einen Menschen, der im Koma liegt, so kann es vorkommen, dass er einen einige Tage später mit größter Selbstverständlichkeit auf die Dinge anspricht, die man mit ihm, am Bett sitzend, ausgetauscht hat. Man kann sich sogar fragen, ob der Betreffende überhaupt ein Bewusstsein davon hat, welche irritierende Wirkung das auf Normalmenschen haben kann. So kommen mir manchmal Kinder der modernen, über-wachen Sorte vor, die so viel wahrnehmen und oft unangemessen reagieren und lange Verarbeitungszeiten haben. Es ist wichtig, zu diesen Kindern die innere Treue zu halten und sich für deren Art zu interessieren, wie sie Dinge verarbeiten und äußern.

Eine Begegnung mit dem, was die Kinder morgens zu fragen haben, wird nur dann stattfinden, wenn ich für die Fragen wirklich aufnahmebereit bin. Dies wird man innerlich sehr leicht auseinander halten von dem eigenen bloßen Reagieren auf Worte. So kann man sich vornehmen, sollte einem das wirkliche Zuhören mehr oder weniger misslingen, überhaupt wenig Worte zu machen. Dadurch entsteht zumindest wenig Schaden. Und die gewünschte Verfassung kommt oft bald und wie von allein schon am selben Tag zurück.

In jeder Klasse gibt es einige Kinder, die instinktiv die Möglichkeit nutzen sich durch das während des Wahrnehmens stattfindende Vorstellen des Wahrgenommenen etwas besser in ihrem Leib zu verkörpern. Auch das wäre ein Grund, nicht mit dem sog. Rhythmischen Teil den Unterricht zu beginnen. Oftmals hört man Kollegen über diese Kinder klagen. Sie fallen fast nie nur dadurch auf, dass sie im Rhythmischen Teil nicht richtig mitmachen. Doch würden Sie diesen Teil richtig mitmachen, müssten sie hinterher noch mehr auffallen. Denn vielen dieser Kinder bekommt der Rhythmische Teil am Anfang des Unterrichts nicht gut. Sie brauchen besonders dringend, was für alle Kinder eine gute Idee wäre: Den Unterricht beginnen mit etwas selbst Erlebtem oder etwas Nachdenkenswertem.

Für manche Kinder tut man nichts Gutes, wenn man sie zum Singen auffordert. Wie lähmend ist eventuell die Entwicklung des vielleicht sogar nur innerlich erlebten Wunsches: „Soll der doch jetzt mal singen!“ Man wird vielleicht sogar mit Freude wahrnehmen, wie das Zuhören zur Inkarnation des Kindes beiträgt, auch wenn oder gerade weil es nicht selbst mitsingt. Wie anregend und aufbauend wirkt das auf das Kind! Und wenn ich danach sage, wie schön es geklungen habe, wird selbiges Kind sich angesprochen fühlen: Es fühlt sich zwar nicht selbst gelobt, es fühlt sich aber mit meinem Zuhören. Das sich in dem Lob ausspricht, verbunden. Auch das Kind hat mehr zugehört als mitgesungen, ähnlich wie ich als Lehrer. Dadurch wird auf die Dauer eine vollkommen andere Atmosphäre geschaffen. Und wenn dem Kind leiblich danach ist, kann es sofort mit dem Singen einsetzen. Es kommt nicht in die Rolle desjenigen, der sowieso nicht mit singt – und fürs Mitsingen erst mal die Rolle wechseln müsste. Man kann solchen Kindern ihre Inkarnation erheblich erleichtern, indem man den Rhythmischen Teil nicht als geschlossenen Teil in den Unterricht einbindet, sondern immer wieder rhythmische Tätigkeiten anregt.

Etwas besonders Schönes an der Anordnung, dass das Kind den anderen bei etwas zuhören kann, in das es auch jederzeit tätig mit einsteigen könnte liegt darin, dass das Kind sich dafür ganz seiner geistig-seelisch-leiblichen Verfassung überlassen kann. Diesen Vorgang sollte man nicht stören. Dies betrifft das Atmen, von dem Rudolf Steiner am Anfang der sog. Allgemeinen Menschenkunde sagt, dass es den Kindern beigebracht werden müsse. Und das geht wie von selbst. Mithilfe und durch jemandem, der es wahrnehmend, liebevoll und fröhlich begleitet.

Hier wird wieder deutlich: Das hier gemeinte Atmen im tieferen Sinne hat sein Urbild in jeder Begegnung mit dem Anderen. Es findet an tausend weiteren Stellen statt. Zwei besonders effektive, pädagogisch und therapeutisch sinnvolle Gebiete sind die des Hörens und des Sehens. Hier findet sozusagen kleinräumig statt, was sich im Großen in der Begegnung ereignet.

Besonders fruchtbar an der Pflege des Sehens und des Hörens ist, dass diese beiden Gebiete sich selber atmend gegenseitig ausgleichen. Und dass ihre Beziehungen zu unserem Körperlichen so fertig sind, dass ich mit der Pflege der beiden Gebiete praktisch alles im Körperlichen und Seelisch-Geistigen erreichen kann.

 

Bei der Begegnung dagegen spielt mit der Entwicklung des Tast- und Ichsinnes gerade besonders viel Unfertiges eine Rolle. Dafür hat sie aber auch mit dem Ziel und dem Werden des Menschen am meisten zu tun. Gehe ich bei der Wahrnehmung des Anderen extrem aus mir heraus, so bin ich in den Nachwirkungen auch besonders bei mir. Manches Kind fühlt sich danach vielleicht in seiner Haut viel wohler als vorher. Die Angewiesenheit moderner Kinder in ihrem Sich-leiblich-gesund-Fühlen auf die Angemessenheit ihrer Erlebnisse ist größer geworden.

Mit der Pflege der Wahrnehmung des Anderen ist mittelbar eine Pflege der Haut verbunden. Ich-Sinn und Haut und Ich und Tast-Sinn hängen voneinander ab. Insbesondere hyperkinetische und neurodermitische Kinder fühlen sich von all den geschilderten Verrichtungen angezogen. Sie fühlen sich von dem Werdenden und Unfertigen des Ich fast magisch angezogen. Und mit dem hat die Ich-Wahrnehmung zu tun. Und das Erlebnis des Körpers von innen, mit der Haut sozusagen als Grenze, hat viel mit den Grundlagen des Ich-Gefühls und Ich-Bewusstseins zu tun. Die Zerstörung beziehungsweise Auflösung der Haut hängt mit dem ganzen hier besprochenen Gebiet zusammen. Kinder, die mit der Haut Probleme haben, nehmen oft viel mehr wahr, als sie eigentlich vertragen. Kommen solche Kinder durch Begeisterung für etwas und die daraus resultierende Bewegung für eine Weile viel stärker als gewohnt aus sich heraus, so kann man manchmal erleben, dass eine körperlich gesunde Phase damit eingeleitet wird. Hängt das möglicherweise damit zusammen, dass es in einer aktiven und kreativen Zeit durch die Fantasietätigkeit die Überfülle der Eindrücke sowohl besser verarbeiten als auch abwehren kann?

Es handelt sich ja oft um Kinder, die in manchen Lebenssituationen auffällige Defizite im Bereich des Gebrauchs der sog. unteren Sinne zeigen. Allerdings habe ich in den vergangenen 21 Jahren kein einziges unter den erwähnten Kindern gefunden, das nicht in besonders unbeobachteten Momenten die volle, manchmal sogar die besonders ausgefeilte Beherrschung der Sinnesbereiche offenbarte. Wie kann es kommen, dass einigen Kindern der Zugang zu ihren Leib-Sinnesbereichen manchmal so verstellt ist?

Das so häufig auftretende Problem mit den unteren Sinnen hat auch mit deren Wechselbeziehung zu den höheren Sinnen zu tun. Und damit wären wir wieder bei der Begegnung. Das Urvertrauen zur Welt ist durch die Eindrücke des Ich-Sinnes und des Begriffs-Sinnes und durch die Eindrücke des Tast-Sinnes und Lebens- Sinnes viel leichter zu verunsichern als z.B. durch die Eindrücke des Hörens und Sehens. Leibliches und Individuell-Geistiges gehören hier besonders eng zusammen.